Rückblick auf den Kongress 2019

Ein Projekt für alle Ebenen
CIO Krebs will Baden-Württembergs Kommunen beim OZG mit ins Boot holen

Vor mehr als 400 Zuhörern eröffnete der Landes-CIO/CDO von Baden-Württemberg, Stefan Krebs, den Digitalisierungskongress Baden-Württemberg 4.0 in Stuttgart. Neben einem ersten Fazit zur Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) gab der Digitalisierungschef des Landes zudem einen Einblick in die Bemühungen des Landes, alle föderalen Ebenen proaktiv in die Arbeit mit einzubinden und gemeinsam für eine nachhaltige Sicherheit aller Systeme zu sorgen.

Für die erfolgreiche Umsetzung des OZGs in Baden-Württemberg sei es, so Krebs, von zentraler Bedeutung, bei der Arbeit an den OZG-Themenfeldern nicht nur aus dem Land heraus zu arbeiten, sondern die Kommunen aktiv einzubeziehen. Diese Themenfelder waren im IT-Planungsrat definiert und anschließend so aufgeteilt worden, dass jedes der insgesamt 14 Felder federführend von einem Tandem aus einem Bundesministerium sowie einem oder mehreren Ländern koordiniert wird. So hat das Land Baden-Württemberg u. a. gemeinsam mit dem Land Hessen und dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) die Federführung bei der Realisierung des Themenfeldes „Mobilität und Reisen“ übernommen und steht nun mit seinen Kooperationspartnern vor der Aufgabe, einen digitalen Prototypen, digitale Bausteine für das Förderale Informationsmanagement (FIM) sowie konkrete Umsetzungspläne für die Nachnutzung durch die anderen Länder zu erarbeiten. Um die Digitalisierungsaufgaben des Landes „möglichst effizient und kooperativ umsetzen zu können, haben wir eine E-Government-Vereinbarung zwischen Land und Kommunen abgeschlossen“, so Krebs. Um die Lösungen zudem möglichst einheitlich zu gestalten, habe man einerseits interdisziplinäre Teams aufgebaut, die an Standardisierungsprojekten arbeiten, und andererseits mit dem Portal „Service BW“ bewusst schon frühzeitig eine behörden- und ebenenübergreifende Plattform für die gemeinsame Entwicklung aufgebaut: „Service BW ist die zentrale Drehscheibe für alle Akteure der Verwaltungsdigitalisierung bei uns im Land. Hier werden die entwickelten Lösungen zudem für alle Behörden in Baden-Württemberg zur Nachnutzung angeboten.“ Die Lösun­gen im Landesportal werden dabei laut dem CIO/CDO kostenfrei sowie auf die jeweilige Größe der Behörde skalierbar für alle Akteure der baden-württembergischen Verwaltungslandschaft angeboten. Zusätzlich fungiert das Portal als Vehikel für die im OZG geforderte portalübergreifende Umsetzung der insgesamt rund 575 zu digitalisierenden Verwaltungsdienstleistungen.
Die Umsetzung des OZGs sieht das Land als Aufgabe, neben den Bürgerinnen und Bürgern auch die Verwaltungsmitarbeiterinen und -mitarbeiter miteinzubezie­hen, damit die Nutzerorientierung gewährleistet werde, betonte Dr. Katharina Große aus dem Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg auf dem Kongress.
Auch ITEOS als IT-Dienstleister, der das Land bei der OZG-­Umsetzung begleitet, will die OZG-­Umsetzung nachhaltig gestalten. Das bedeute, nach der Erarbeitung von Prototypen auch die technische Implementierung zu sichern und Fachverfahren sowie Register anschließen zu können. Für alle von ITEOS betriebenen Fachverfahren sollten zudem Schnittstellen angeboten werden. Auch die Verwaltung müsse in die Lage versetzt werden, die Prozesse intern bearbeiten zu können und den Wandel anzustoßen. Die Priorisierung der Schnittstellen und Fachverfahren wird derzeit geplant.

Schlüsselthemen KI und IT-Sicherheit
Auch die IT-Sicherheit ist im ­Südwesten ein wichtiges Kernthema. Daher habe man die Sicherheit zu einem festen Bestandteil der Landesstrategie „digital@bw“ gemacht und in deren Rahmen eine Cyber-Sicherheitsstrategie für das Land ausgearbeitet, um mit den Angeboten die Daten von Bürgern und Unternehmen gleichermaßen zu schützen. „Deutschland ist inzwischen ­weltweit das Land, das am dritt­häufigsten von Cyber-Angriffen betroffen ist. Daher ist eine nachhaltige IT-Sicherheit zum einen zwingende Voraussetzung für die digitale Verwaltung, zum anderen müssen wir aber auch auf die wachsende Bedrohung für KMU und Selbstständige reagieren“, so Krebs. Um diese Sicherheit zu gewährleisten, binde man Wirtschaft und Wissenschaft in die Entwicklungen ein und habe zudem eine Kooperationsvereinbarung mit dem BSI-Verbindungsbüro in Stuttgart abgeschlossen. Durch eine zentrale Steuerung der Cyber-Sicherheitsaktivitäten aus dem Digitalisierungsministerium heraus soll außerdem gewährleistet werden, dass keine Kapazitäten durch Parallelprozesse oder sonstige Ressourcenverschwendung unnötig blockiert werden. Zusätzlich arbeitet das Land in einem Pilotprojekt am Aufbau einer sogenannten „Cyberwehr“, die angegriffenen Unternehmen schnell und unkompliziert Hilfe bei digitalen Sicherheitsvorfällen bieten soll. Aktuell können rund 11.000 KMU in der Technologie­region Karlsruhe auf dieses Angebot zugreifen, von denen man bislang in rund 60 Fällen helfen musste. Dabei ist das Angebot seit Februar dieses Jahres rund um die Uhr telefonisch unter der Hotline 0800-CYBERWEHR verfügbar.
Zum Abschluss seiner Ausführungen forderte Krebs, die Schlüsseltechnologie Künstliche Intelligenz (KI) als Chance zu begreifen. „Die Technik birgt natürlich auch Risiken, aber wir werden sie auch nicht ignorieren können. Daher müssen wir sehen, dass wir in eine Vorreiterrolle bei der KI kommen.“ Zudem brauche es eine europäische Initiative, um gemeinsam eine starke Rolle im globalen ­Wettbewerb spielen zu können. Das Land Baden-Württemberg selbst habe zur Erforschung der neuen Technologie ein Positionspapier erstellt, das die Künstliche Intelligenz als Schlüsselfaktor für die Digitalisierung definiert. Aus diesem Grund fördert das Land die Künstliche Intelligenz zusammen mit Fördergeldern aus dem Bund bereits mit insgesamt etwa 120 Millionen Euro.

Landes-CIO/CDO Stefan Krebs will nicht nur endlich eine effiziente und sichere digitale Verwaltung aufbauen, sondern auch Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz frühzeitig angehen. Fotos: Behörden Spiegel/Dombrowsky
Bei der OZG-Umsetzung müsse man bei der Nutzerorientierung auch die Beschäftigten in der öffentlichen Verwaltung im Blick haben, so Dr. Katharina Große aus dem Digitalisierungsministerium Baden-Württemberg.

Die Sachbearbeiter von morgen
Potenziale von KI und Co. zur Entlastung der Verwaltung nutzen

Die Verwaltung ist im Wandel und muss nicht nur aufgrund des fortschreitenden Demographischen Wandels neue Wege gehen, damit sie den immer komplexer werdenden Aufgaben der digitalen Welt weiterhin gerecht werden kann. Seit einiger Zeit rücken daher die Themen Machine Learning und Künstliche Intelligenz (KI) zunehmend in den Fokus der Entwicklungsstrategen in Bund, Ländern und Kommunen. Jan Etscheid, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am von Prof. Dr. Jörn von Lucke geführten Open Government Institute an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen, sieht die neue Technologie als geeignet an, dem Menschen auf fast allen Ebenen der Verwaltungsarbeit simple und repetitive Arbeiten komplett abzunehmen, während sie bei komplexeren Aufgabenstellungen zumindest Vorarbeiten übernehmen könne: „Wir müssen dafür sorgen, dass die KI dem Menschen dient und diesen bei der Arbeit aktiv unterstützt.“

Ein Beispiel hierfür könne „eine Vorauswahl aus Bewerbungsunterlagen sein, die die Software vorab anhand klarer Leitlinien durchgehen kann, sodass der Mensch nur noch die relevanten Bewerber bearbeiten muss“. Aber nicht nur alltägliche Arbeiten könnten Künstliche Intelligenz und Machine Learning übernehmen, sondern auch tiefgreifende Analysen. So seien beispielsweise Deep Learning-Systeme, also optimierte KI-­Netze mit einer Reihe von Zwischenlagen für komplexere Rechenmechanismen, dafür eingesetzt worden, die sogenann­ten „Panama Papers“ auszuwerten, was durch Menschen ausgeführt wohl Monate gedauert hätte und ungleich fehleranfälliger gewesen wäre. Ein weiteres Einsatzfeld sind polizeiliche Maßnahmen wie das sogenannte „Predictive Policing“, also der digital berechneten Wahrscheinlichkeit von Straftaten, oder der Erfassung ungewöhnlichen Verhaltens an Gefahren-Hotspots wie Flughäfen oder Bahnhöfen.

Zusammenspiel der Technik
So sehr die Künstliche Intelligenz also als Schlüsseltechnologie der Zukunft genutzt werden soll, so braucht es eben auch die Software, die um die intelligenten Systeme herum programmiert wird, damit diese auch ihren Nutzen für Verwaltung und Gesellschaft entfalten können. An diesem Zusammenspiel der Technik wird nicht nur in Großprojekten von Bundespolizei und Journalistennetzwerken gearbeitet, sondern immer mehr auch im kleineren Rahmen in Kommunen, Kooperationsverbünden und sonstigen Einrichtungen der Behördenlandschaft.

Steuerchatbot im Einsatz
In der Karlsruher Oberfinanzdirektion beispielsweise soll dem steigenden Arbeitspensum bei gleichzeitig schrumpfender Mitarbeiterzahl entgegengewirkt werden, indem man einen Chatbot entwickelt, der sich mit allen Themen rund um die Steuer auskennt und die komplizierte Materie für Bürger wie Unternehmen gleichermaßen möglichst kurz und verständlich erklären kann. Raimund Wagner, der Projektleiter für den Steuerchatbot bei der Karlsruher Behörde, unterscheidet dabei drei verschiedene Arten von Fragen: „Am einfachsten sind für den Bot die ganz allgemeinen Fragen. Auch Anfragen für den Status von Steuerangelegenheiten sind möglich, müssen allerdings für das Steuergeheimnis optimiert und mit sicherer Identitätsprüfung ausgestattet sein. Ganz individuelle Anfragen sind hingegen kein Feld für den Chatbot, da es dort fachspezifischen Wissens bedarf, welches so heute für uns nicht digitalisierbar ist.“ Um das auf Machine Learning basierende Angebot trotz seiner Limitierungen so gut wie möglich nutzbar zu machen, arbeitet ein festes Redaktionsteam als Steuerexperten daran, die Inhalte zu strukturieren, das Angebot weiterzuentwickeln und den Bot zu trainieren. Da der Chatbot der Steuerdirektion erst vergangenen November als Pilotprojekt eingeführt wurde, sind diese Prozesse noch recht frisch. Daher arbeite man aktuell zudem einige Leitpunkte heraus, was für einen langfristigen Erfolg der Lösung zentral ist, wie Wagner erklärt: „Wir haben uns bewusst für einen leisen Markteinstieg entschieden, um das Angebot erstmal Alltagstauglich zu machen. Für die Zukunft geht es nun vor allem darum, dass wir die Inhalte stets aktuell halten, die Doppelpflege von Inhalten vermeiden und stattdessen Verlinkungen nutzen. Diese Links müssen dann natürlich auch regelmäßig überprüft werden, damit keine Karteileichen entstehen.“ Weitere zentrale Punkte seien ein nachhaltiges System für Datenschutz und Informationssicherheit sowie die Erkenn­tnis, dass nur die Nutzung durch echte Menschen dabei helfen, das System zu optimieren. Als zukünftige Erweiterun­gen des Karlsruher Steuerchatbots wolle man nun daran gehen, Suchmaschinen- sowie Übersetzungsdienste und eine Sprachsoftware zu implementieren. Auch ein Authentifizierungsverfahren müsse eingerichtet werden, um den Bürgern auch die Möglichkeit zu geben, sensible Inhalte auf digitalem Wege über den Bot zu regeln.
Zukünftig solle man potentielle Anwendungsfälle für Lösungen auf KI- oder Machine Learning-Basis in Assessment-Projekten vorab einfach mal durchspielen, statt wie bislang im Nachhinein auf Bedarfe zu reagieren, forderte Oliver Rack aus dem Referat des Heidelberger Oberbürgermeisters: „Die IT-Projekte der öffentlichen Verwaltung müssten eigentlich so gut sein, dass sie für andere Behörden oder sogar die Privatwirtschaft als Rollenmodell dienen könnten.“ Das technische Wissensniveau der Privatkonzerne müsse man perspektivisch sowieso erreichen, da ein Staat laut dem Heidelberger mittelfristig nur noch begrenzt als regionales Gebilde und stattdessen mehr und mehr als funktionales Gebilde agieren müsse. Ein Problem bei der aktuellen Lage wäre zudem, dass die meisten beispielhaften Datenschutzmodelle auf staatlicher bzw. vergleichbar großer Ebene aus anderen Rechtsräumen mit ganz anderen Entscheidungskulturkreisen als dem Deutschen kämen. Statt sich bei solchen Lösungen von globalen Akteuren aus West oder Ost leiten und inspirieren zu lassen, solle man eher mit den europäischen Bündnispartnern zusammenarbeiten: „Man muss sehen, ob man möglichst europaweit eine gemeinsame Ebene für juristische Lösungen findet, denn manche rechtlichen Problemstellungen wird man zukünftig wohl oder übel europäisch angehen müssen“, so Rack abschließend.

Für Jan Etscheid vom Open Government Institute an der ZU Friedrichshafen sind KI-gestütze Systeme ein wichtiges Instrument, den demographischen Wandel in der Verwaltung so gut wie möglich aufzufangen.

Einen Schritt nach dem anderen machen
Verwaltung diskutierte neue Denkansätze für die Digitalisierung

Das Geld ist da, die Strukturen werden immer besser, aber die wirklich spürbaren Ergebnisse bleiben weiter Mangelware. Dies ist nicht nur das Gefühl vieler Bürger, wenn sie an das Thema „Digitale Verwaltung“ denken, sondern auch von vielen Akteuren im Inneren. Was sich an Strukturen und Denken wandeln muss, um endlich voranzukommen, wurde auf dem Kongress Baden-Württemberg 4.0 diskutiert.

Eine ganz „neue Art, Verwaltung zu denken“, forderte dabei Marian Schreier, Bürgermeister der Stadt Tengen. Der digitale Wandel müsse heute als eine ganz neue organisatorische Verantwortung begriffen werden: „Anstatt analoge Verfahren einfach eins zu eins ­digital aufzusetzen, müssen wir die Prozesse vom Antrag bis zum Fachverfahren durchdigitalisieren und bei der Erarbeitung dieser Prozesse auch die Privatwirtschaft einbinden.“ So müssten die Projekte agil und mit projektorientierten Kooperationsmodellen aufgebaut werden. Zudem müssten Register in einen einheitlichen Datenstandard umgewandelt werden, damit sie jederzeit und auf allen Ebenen miteinander kommunizieren können. Für all diese Ziele brauche es mehr Experimentierfreudigkeit, so Schreier: „Es braucht Klauseln auch jenseits rechtlicher Vorschriften, um auch Lösungen in die Praxis zu bringen, die nur zu 70 oder 80 Prozent fertig sind und dann im laufenden Betrieb weiterentwickelt werden.“

Dezentral denken und arbeiten
Auch Simon Blümcke, Erster Bürgermeister der Stadt Ravensburg, forderte einen neuen Ansatz weg von Ankündigungen und hin zu einer Kultur, die Taten sprechen lasse. Dafür solle man damit beginnen, einen klaren Plan auszuarbeiten, was man mit der Digitalisierung erreichen wolle: „Aktuell wird permanent versucht, den zweiten Schritt vor dem ersten zu machen. Es ist so, als hätte man keinen Plan in der Hand, aber wäre im Bad schon dabei, die Fliesen zu verlegen“, so Blümcke.
Wichtig sei es auch, dass die digitalen Prozesse möglichst dezentral gedacht würden. Dies sei für die Verwaltungsstrukturen von Vorteil, eine dezentrale Datenverwaltung helfe aber auch bei der rechtskonformen Umsetzung der Datenschutz-Grundverordnung (EU-DSGVO). Für eine dezentrale Arbeitsweise im Sinne von tiefgreifenden Kooperationsprojekten sprach sich auch Dr. Christine Brockmann, Geschäftsführerin der Metropolregion Rhein-Neckar, aus. Einzelne kommunale Projekte brächten im Normalfall wenig, um die Verwaltung als Ganzes voranzubringen. Stattdessen brauche es Kompetenzverbünde, die gemeinsam Projekte anstießen: „Hier in Baden-Württemberg haben wir Geld, Strukturen und Expertise. Aber trotzdem kommen wir nicht bedeutend voran. Das muss sich ändern, und daran muss die Verwaltung ihren Anteil haben“, so Dr. Brockmann.
Für Stefan Krebs, den CIO/CDO von Baden-Württemberg, sieht die Lage nicht ganz so ernst aus. Bei der Digitalisierung fördere man vonseiten des Landes aktuell 50 Kommunen für die Umsetzung ihrer Digitalisierungsstrategien, die danach als Musterbeispiele in Netzwerken weitergegeben werden sollen, sodass auch andere Behörden davon profitieren könnten. Im Bereich des E-Governments sei es zudem so, dass viele Kommunen sich noch gegen digitale Prozesse wehren würden, so Krebs. Hier müsse man erst mal daran arbeiten, überhaupt für ein innovationsoffenes Klima zu sorgen, ehe man über das weitere Vorgehen nachdenken könne.

Diskutierten mitunter kontrovers, aber immer im Sinne der Sache über die Digitalisierung in Deutschland und Baden-Württemberg: Simon Blümcke, Erster Bürgermeister der Stadt Ravensburg, Marian Schreier, Bürgermeister der Stadt Tengen, Stefan Krebs, CIO/CDO der Landesregierung Baden-Württemberg, Sabine Meigel, Leiterin Geschäftsstelle Digitale Agenda, Stadt Ulm, Guido Gehrt, Behörden Spiegel, Ralf Schneider, Vorstand des Software-Dienstleisters ISB, Jürgen Fritsche, Geschäftsleitung Public Sector, msg systems, sowie Dr. Christine Brockmann, Geschäftsführerin der Metropolregion Rhein-Neckar (v.l.n.r.).

Agile Innovationen
Geht die Digitalisierung nicht ohne Agilität?

Kundenorientiert hat die Verwaltung schon immer gearbeitet, aber nicht so, wie agile Innovationen dies heute erfordern. Gerade bei der Digitalisierung soll vieles anders gemacht werden, seien es die Organisation und der Aufbau von Projekten, die Kommunikation in Teams oder das Mindset von Einzelnen sowie ganzen Institutionen. Einen Königsweg gibt es nicht. Dennoch zeichnet sich mit zunehmender Automatisierung, Vernetzung und Komplexität die verstärkte Nutzung agiler Methoden ab. Sie erlauben Anpassungsfähigkeit, kurze Reaktionszeiten und die verstärkte Einbindung des Kunden. Sie erfordern gleichzeitig Veränderungs­willen, neue Kooperations- und Kommunikationsformen und ständiges Lernen.

In der Privatwirtschaft ist vielfach Agilität das oberste Ziel. Wandlungsfähigkeit sichert den Vorsprung. Agile Unternehmen nehmen frühzeitig Veränderungen im Markt wahr, fördern ständige Lernkultur und messen der Zusammenarbeit mit den Kunden eine hohe Bedeutung bei. Durch die Wandlungsbedarfe wie Digitalisierung, Globalisierung und Wertewandel ist auch der Wunsch nach einer flexiblen Verwaltung groß. Für die Anwendung agiler Methoden bedeutet dies, dass sie ein Schlüssel zur Bewältigung der Herausforderungen der öffentlichen Verwaltung in Zeiten des demografischen Wandels sein können. Sie sollten bei einer Anwendung jedoch in das Selbstverständnis von Organisationen eingebettet werden und erfordern neue Kompetenzen. Limitierende Ressourcen sind derzeit vernetzende Kompetenzen in Behörden.

Flache Hierarchien – mehr Rückkopplung
Eine ebenenübergreifende Zusammenarbeit quer zu den klassischen Strukturen ermöglicht Innovationen und kann neue Potenziale entfalten. Agilität hilft, mit flachen Hierarchien umzugehen und Projekte nicht top-down durchzuführen. Ein Mehrwert der Agilität ist es, Ideen aus der Gesellschaft nutzerorientiert mit einzubeziehen. Feedbackschleifen und Rückkopplungsprozesse zu Endnutzern werden kürzer, Änderungen können schneller durchgeführt werden. Der Prozess wird transparent.
Zur effizienten Gestaltung von Projekten existieren einige agile Methoden, sei es Scrum (deutsche Übersetzung für „Gedränge“ oder „Gedrängtes“) oder Design Thinking, die entgegen klassische Projektorganisationen neue Handlungsfähigkeit auf digitale Herausforderungen versprechen. Dabei kommt der Grundgedanke agiler Innovationen aus der ­Software-Entwicklung der 1980er-und 1990er-Jahre, als diese aufgrund komplexer Umgebungen nicht von Anfang bis Ende präzise durchgeplant werden konnte. In kurzen Intervallen oder Iterationen werden die nächsten unmittelbaren Schritte geplant. Insbesondere für Digitalisierungsvorhaben, bei denen das Umfeld komplex und die Strukturen anpassungsfähig sein sollten, eignen sich agile Arbeitsweisen.
Vielfach mündet der Wunsch nach neuen flexiblen Arbeitsweisen in der Einrichtung sogenannter Hubs und Labs, die agile Vernetzungs- und Arbeitsräume ermöglichen, in denen Neues ausprobiert und pilotiert werden kann.
Beim Ausprobieren mit agilen Methoden herrscht derzeit eine Aufbruchstimmung, bei der es weiterhin gilt, das Ziel und die Umsetzungsorientierung im Fokus zu behalten. Wie alle Methoden oder Vorgehensweise ist auch Agilität ein Weg zum Erfolg.

Für Tobias Freitag, Experte für Agile Transformation beim Unternehmen bridgingIT, steht fest: keine Digitalisierung ohne Agilisierung.

System verteilter Führung
Herrenbergs Bauhof setzt auf Selbstorganisation

Die Kommunen in Baden-Württemberg führen derzeit eine Vielzahl von Maßnahmen durch, um die digitale Transformation der Verwaltung vor Ort voranzutreiben. Bei der Stadt Herrenberg etwa setzt man im Amt für Technik, Umwelt und Grün derzeit mit wissenschaftlicher Begleitung der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg im Rahmen der Forschungskooperation „Zukunftsfähige Stadtverwaltung Herrenberg“ ein Drei-Phasen-Modell um, dass insbesondere auch die Selbstorganisation stärkt und Hierarchien abbaut.
Zu den Zielen dieses Vorhabens zählt in erster Linie das „Aufbrechen der Ämterdenke“, wie Prof. Dr. Claudia Schneider erklärte, die gemeinsam mit Prof. Dr. Birgit Schenk die Hochschule Ludwigsburg in diesem Projekt vertritt. Mitarbeiter und Führungskräfte sollen vernetzt, eigeninitiativ und eigenständig arbeiten. Die Chancen der Digitalisierung sollen dabei in allen Prozessen und Bereichen der Zusammenarbeit realisiert werden.
Basierend auf einer Organisationsdiagnose, Strategieerarbeitung und Maßnahmenplanung wurden im Jahre 2017 in Phase I E-Services für zehn ausgewählte Geschäftsprozesse entwickelt. Phase II im vergangenen und in diesem Jahr stand dann ganz im Zeichen der Einführung der Selbst­organisation auf dem Bauhof der Stadt unter dem Claim „Digital.NewWorkTDH@Herrenberg“. Dabei wurde ein System verteilter Führung etabliert, indem formale Führungsaufgaben auf die Mitarbeitenden im Kontext moderner, selbstorganisationsbasierter Arbeitsstrukturen und -prozesse verlagert wurde. Hierbei sollten die kreativen Potenziale und Ideen in den Köpfen der Mitarbeiter erschlossen werden, um effektivere und effizientere Prozesse und Abläufe sowie mehr Bürgernähe zu erreichen. Zudem sollten neue Perspektiven der Zusammenarbeit und Verantwortungsübernahme durch Selbst­organisation eröffnet werden, was zu einer Verbesserung des Arbeitsklimas und der Motivation führen sollte. Ziel von Digi tal.NewWorkTDH@Herrenberg ist es zudem, moderne Formen der kollegialen Leistungsbewertung (New Pay) zu etablieren. Hierdurch will man für die Beschäftigten Entgeltperspektiven eröffnen, die im starren System des Öffentlichen Dienstes normalerweise nicht gegeben sind, insbesondere in den niedrigen Entgeltgruppen.
Stefan Kraus, Leiter des Amtes für Technik, Umwelt und Grün der Stadt Herrenberg, zog ein positives Zwischenfazit. So sei etwa die Auftragsbearbeitung gegenüber dem Vorjahr deutlich gesteigert worden. Auch das Arbeitsklima habe sich weiter verbessert und das individuelle Bewusstsein für die eigene Verantwortung sei heute deutlich stärker ausgeprägt. Dies komme nicht zuletzt auch daher, dass man beim Bauhof nun mit einer rollierenden Führung (jeweils vier Wochen) arbeite.
In der Phase II soll nun bis 2020 in der Verantwortung der Selbstorganisation ein Redesign der in Phase I entwickelten E-Services erfolgen. Die Geschäftsprozessoptimierung soll vorangetrieben werden und unter der Überschrift „Agile Organisation Herrenberg“ die Ausweitung der Selbstorganisation auf weitere Bereiche des Amtes geprüft werden.

Prof. Dr. Claudia Schneider, Professorin für Verwaltungsmanagement, und Prof. Dr. Birgit Schenk, Professorin für Verwaltungsinformatik und Organisation, beide Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg, bringen in das Herrenberger Projekt ihre wissenschaftliche Expertise für konkrete Verbesserungen im behördlichen Alltag ein. Stefan Kraus, Leiter Technischen Dienste, Stadt Herrenberg, zeigte auf, wie sich dies in der gelebten Praxis niederschlägt.

Digitale Labore im Wandel
Gezieltes Experimentieren in interdisziplinären Teams

Während die Notwendigkeit für behörden- und unternehmensübergreifende Zusammenarbeit und ein damit zusammengehendes Aufbrechen von Silos immer noch nicht überall in der öffentlichen Verwaltung angekommen ist, werden einige Kooperationen bereits auf neue inhaltliche und organisatorische Stufe ge­hoben. Neue Wege geht beispielsweise das Innovation Lab an der Deutschen Universität für Verwaltungs­wissenschaften in Speyer.

Im dortigen Labor versucht man ganz bewusst, Innovation auf neuen Wegen zu erzeugen, wie Prof. Dr. Hermann Hill, Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht, erklärt: „Für erfolgreiche Projekte braucht es Teams mit kreativen Leuten aus allen Bereichen, die auch andere Perspektiven mitbringen als die der Verwaltung. Dazu gehört unbedingt auch der Bürger, denn der soll die Angebote am Ende ja schließlich nutzen.“ Wichtig sei für die Entwicklung kreativer Ideen vor allem auch eine „ergebnisoffene Ergebnisorientierung“. So solle man erst mal Ideen sammeln und so das Gehirn anregen, bis im unbewussten Teil des Gehirns gute Ideen produziert würden, so Hill. Mit dem sogenannten „Priming“, einer Technik aus der Gehirnforschung, können laut dem Professor kreative Prozesse im Hirn durch bewusste Reize aktiv angestoßen werden, die dann mithilfe von Assoziationen aus dem Gedächtnis zu einer neuen Idee führen könnten.

Die grobe Richtung vorgeben
In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Ralf Schneider, Vorstand beim Software-Anbieter ISB AG sowie des CyberForums e.V., das ein CyberLab als Accelerator-­Programm für IT-Start-ups betreibt. So müsse man Kreativität zulassen, gleichzeitig aber müsse „Innovation bis zu einem gewissen Grad geplant werden. Man muss zunächst eine grobe Richtung vorgeben, ehe man seine Leute einfach in alle Richtungen drauf los experimentieren und Geld verbrennen lässt.“ Der größte Fehler vieler Häuser ist es in seinen Augen, dass häufig Labore eingerichtet würden, denen von den Häusern keine Richtung vorgegeben werde, in welche Richtung es gehen solle. Stattdessen müsse man den Laboren von Anfang an Leitfragen mit auf den Weg geben, damit die aus der Arbeit entstehenden Ergebnisse die Firma oder Behörde auch voranbringen und man sich gleichzeitig von anderen Häusern inhaltlich absetzen könne. Das CyberLab in Karlsruhe arbeite seit fünf Jahren daran, Gründer mit einem Mentoring- und Coaching-Programm bei der Weiterentwicklung von Ideen zu unterstützen. Dafür arbeite man aus dem Verband des CyberForums heraus, der bereits seit 1997 als Netzwerk von IT-Unternehmen in der Technologieregion Karlsruhe bestehe und rund 1.200 Mitglieder zähle, mit 150 Mentoren aus der Unternehmenspraxis sowie 250 sogenannten „Business Angels“, also Investoren und Mentoren für die Start-up-Frühphase, zusammen. Um zu sehen, ob die Bewerber auch wirklich eine sinnvolle Idee hätten und deren Umsetzung realistisch sei, müssten alle jungen Gründer ein sechswöchiges Projekttraining mit Abschlusspitch mitmachen, bevor sie das Angebot mitmachen können. Auf diese Weise habe man rund 4.200 Gründer in den letzten fünf Jahren unterstützt, von denen die meisten Unternehmen sich schnell selbst finanziell trügen.

Es darf nicht zu perfekt sein
Trotz aller Euphorie für neueste Technik und modern gestaltete Räumlichkeiten müsse man neben einer sinnvollen Ausstattung auch darauf achten, dass die Labore nicht zu perfekt seien, warnt Jasmin Mertikat von dem Kreativlabor Tinkertank aus Ludwigsburg, das als Innova­tionspartner der digitalakademie@bw agiert: „Viele Labore sind so gut ausgestattet und sehen so schick aus, dass die Mitarbeiter sich gar nicht trauen, sie zu nutzen. Daher muss man bei Aufbau und Betrieb dafür sorgen, dass die Menschen keine Angst haben, sondern die Labore stattdessen als Werkzeuge wahrnehmen, die sie auch benutzen wollen.“ In den von Tinkertank angebotenen Laboren werden laut Mertikat Themen bearbeitet, die Kommunen bewegen. Dabei werde zu Beginn einer Laborsession ein gemeinsames Brainstorming betrieben, um diese Problemstellungen herauszufinden und mögliche Lösungswege zu definieren. Anschließend werde mit analogen und digitalen Tools experimentiert und im Laufe jedes Labors am Ende ein Prototyp für eine Lösung gebaut, um nicht nur theoretische Ideen mit aus der Arbeit zu nehmen, sondern ein konkretes Ergebnis zu gewinnen, das man anschließend potenziell nutzen oder optimieren könne.

Für Ergebnisse, die von allen Seiten angenommen werden, plädiert Prof. Dr. Hermann Hill, Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer, dafür, in Laborsituationen möglichst viele gesellschaftliche Perspektiven wie möglich zusammenzubringen.